23. Mai 2023
„Das wird man doch noch sagen dürfen“
Welche Reaktion ist angemessen, wenn Menschen politische Meinungen äußern, die die eigene Komfortzone verletzen? Aushalten oder einschreiten? Über die Verantwortung des Einzelnen für eine sachliche Diskussionskultur.
in ICE-Großraumabteil am späten Samstagabend irgendwo zwischen Berlin und Wolfsburg. In einigen Metern Entfernung ereifern sich zwei Frauen ausführlich und eine Spur zu laut über die „Judenrepublik und die Corona-Diktatur“. In Berlin haben sie vor dem Brandenburger Tor demonstriert. „Weil Corona eine Erfindung ist.“ Und Maskenpflicht und Abstandsregeln eine „Tyrannei in der Merkel-Diktatur“. Friedlich rauscht der ICE seines Weges.
Auf einer Familienfeier in einem westfälischen Dorf ereifert sich der männliche Teil der Gäste nach ausgiebigem Branntweingenuss über den Dieselskandal und Fahrverbote in deutschen Städten: Die Grünen hätten doch nicht alle Tassen im Schrank, die Autohersteller seien doch quasi zum Betrügen gezwungen worden, die Leute müssten wohl künftig die AfD wählen, die eine Lanze für die traktorenaffine Landbevölkerung breche. Die Stimmung kippt.
Die hier beschriebenen Szenen sind fiktiv, spiegeln aber Diskussionen wider, die so oder ähnlich hierzulande geführt wurden und geführt werden. Ist es geboten, in diesen Situationen Verantwortung zu übernehmen und seine Stimme deutlich gegen solche Äußerungen zu erheben?
Zwischen Recht und Gewissen
Ein Blick ins Grundgesetz zeigt: Juristisch gesehen fallen die oben zitierten Äußerungen unter die in Artikel 5 des Grundgesetzes verankerte freie Meinungsäußerung, selbst wenn der Jargon abwertend und der Inhalt nicht korrekt ist. Menschen anderer Meinung müssen solche Äußerungen aushalten, sind aber auch berechtigt, abweichende Ansichten zu entgegnen.
Die Frage, ob, wann und wie es geboten ist, sich in solche Unterhaltungen einzumischen, lässt sich kaum allgemein beantworten. Denn sie wirft eine Vielzahl weiterer Fragen auf: Wie stark und durchsetzungsfähig ist das eigene Gewissen? Bringt eine Einmischung überhaupt etwas, und welches Ziel lässt sich damit erreichen? Entsteht durch eine Einmischung oder Eskalation eine Gefahr für einen selbst oder andere? Nicht zuletzt geht es auch um persönliche Veranlagungen und Befindlichkeiten: Eine extrovertierte Person gibt sicherlich eher Widerworte als eine schüchterne.
Im ersten Beispiel wäre es denkbar, sich zu Wort zu melden. Es ist zwar nicht davon auszugehen, dass die beiden Damen im ICE dadurch zu einer ganz neuen politischen Haltung finden. Missfallen kann aber artikuliert werden, um ein Zeichen zu setzen, dass einen solche Äußerungen stören. So wird das Gespräch vermutlich zumindest unterbrochen oder leiser fortgeführt. Mitreisenden wäre damit ebenfalls geholfen: Auch sie müssten die Unterhaltung nicht mehr anhören – und würden vielleicht sogar ermutigt, sich in dieser oder in einer ähnlichen Situation einzumischen.
Im zweiten Fall könnten ebenfalls Argumente helfen: Immerhin wäre bei einer Debatte innerhalb der Familie zu hoffen, dass die Beteiligten eher bereit sind, sich mit den vorgebrachten Argumenten auseinanderzusetzen als Fremde im öffentlichen Nah- und Fernverkehr.
Debattenkultur auf Abwegen
Nicht nur im Alltag, auch in den Medien driften die Extreme der Debattenkultur auseinander: Auf der einen Seite wird in Berichten und Kommentarspalten, aber auch in Interviews mit Größen aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft immer vorsichtiger und verklausulierter formuliert. Auf der anderen Seite verrohen in den sozialen Medien die Sitten zunehmend. Nicht nur politische Debatten, auch Diskussionen zwischen Impfgegnern und -befürwortern, zwischen Corona-Leugnern und Verfechtern der Corona-Beschränkungen werden immer schärfer geführt, Beleidigungen sind an der Tagesordnung. Der britische Historiker Timothy Garton Ash warnt in seinem Buch „Redefreiheit“ davor, dass eine Gesellschaft, die zu große Rücksicht auf Sensibilitäten nehme, neue Probleme schaffe. Ein allzu weichgespülter öffentlicher Diskurs sorge dafür, dass sich Gespräche über wichtige politische und gesellschaftliche Themen an die virtuellen und echten Stammtische verlagern, wo sich oft die lautesten Stimmen durchsetzen und nicht die besten Argumente. Auch wenn laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung im August 2020 populistische Einstellungen in der politischen Mitte rückläufig waren, besteht weiterhin die Gefahr einer Radikalisierung am rechten Rand – also dort, wo bewusst zuspitzende Politiker erwiesenermaßen verstärkten Zulauf genießen.
Die Ausweitung der Komfortzone
Wie kann es gelingen, eine im Wortsinne streitfreudige, aber faire Diskussionskultur im Alltag zu pflegen? Wie so oft bei grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen hilft es, bei sich selbst anzufangen und täglich mentale Dehnübungen zu pflegen. Dazu ist es unerlässlich, nicht sofort reflexartig die Ohren auf Durchzug zu stellen oder alternativ in die unsachliche Konfrontation zu gehen, wenn jemand eine Meinung äußert, die einem selbst nicht schmecken will. Das mag nicht immer angenehm sein, stellt jedoch das Grundprinzip der Toleranz dar: Der Begriff beruht auf dem lateinischen tolerare (erdulden, ertragen) und impliziert damit schon eine gewisse Mühsal. Mit dem Erdulden signalisieren wir, dass wir grundsätzlich bereit sind, andere Meinungen gelten zu lassen, mögen Debattengegnerinnen und -gegner auch unfreundlich daherkommen oder – wenn wir online diskutieren – mit Interpunktion und Rechtschreibung auf Kriegsfuß stehen.
Übung macht den Meister
Das Einmischen in eine Debatte erfordert neben Sachkenntnis auch Zivilcourage. Wissen lässt sich anlesen. Doch woher kommt der Mut, sich zu Wort zu melden? Eine Möglichkeit wäre der „Heute mische ich mich mal ein“-Tag. Das bedeutet nicht, sich auf Extremfälle wie zum Beispiel eine Debatte mit zwei betrunkenen Skinheads in einer S-Bahn morgens um halb drei einzulassen, sondern den Ernstfall besser zunächst einmal in alltäglichen Situationen und im geschützten Raum zu proben – beispielsweise unter Kolleginnen und Kollegen, in der Familie oder auch in der Warteschlange an der Supermarktkasse. Wenn dort eine Äußerung fällt, die man ungern so stehenlassen würde, kann man sich ebenso freundlich wie bestimmt einmischen. Das Internetportal „Aktiv werden!“ empfiehlt beispielsweise, nachzuhaken und Behauptungen zu hinterfragen. Mit Fragen wie „Woher wissen Sie das?“ oder „Was genau stört Sie persönlich daran?“, werden die Gegenüber unter Zugzwang gesetzt. Dadurch wird zudem verdeutlich, dass man sich nicht mit Pauschalurteilen abgeben will.
Bei einer intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung geht es jedoch nicht nur um rhetorische Kniffe, sondern vornehmlich um Fakten. Auch hier bietet das Internet zahlreiche Anlaufstellen, um sich zu informieren. Auf der Website von Pro Asyl etwa gibt es unter der Rubrik „Fakten gegen Vorurteile“ konkrete Handreichungen für die Diskussion mit Menschen, die Asylsuchende diffamieren. Hier erfahren wir beispielsweise zur häufig vorgetragenen Kritik „Die Flüchtlinge kommen doch alle nach Deutschland“, dass ähnlich viele oder teilweise sogar mehr Geflüchtete in der Türkei, in Pakistan oder auch in Äthiopien leben. Der Verein Demokratie und Vielfalt e. V. listet auf seiner Internetseite weitere interessante Fakten auf. So wird beispielsweise die Standardphrase „Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg“ rechnerisch widerlegt: Tatsache ist, dass in vielen Bundesländern mit hoher Arbeitslosigkeit zugleich der Anteil an Ausländerinnen und Ausländern besonders niedrig ist.
Wer mag, der kann das Diskutieren sogar als Sport ausüben. Inzwischen gibt es allein in Deutschland mehr als 50 Debattierklubs. Hier versammeln sich Menschen, um Debatten in Form eines Wettkampfs abzuhalten. Es wird ein Thema festgelegt und dann per Los bestimmt, wer die Pro- und wer die Kontra-Position zu vertreten hat – unabhängig von persönlichen Vorlieben. Regelmäßige Debattiererinnen und Debattierer können auf diese Weise ihre rhetorischen Fähigkeiten ebenso wie ihre Analyse- und Argumentationsfähigkeit verbessern.
Steter Tropfen höhlt den Stein: Im besten Fall gelingt es uns, unser Gegenüber zu überzeugen. Wenn nicht, entspinnt sich vielleicht wenigstens eine fruchtbare Diskussion. Schlimmstenfalls finden beide Parteien nicht zueinander; hier hilft die schöne Redensart „Let’s agree to disagree“, den Frieden und die Diskussionskultur zu wahren, ohne dass eine oder einer der Beteiligten ihr beziehungsweise sein Gesicht verliert.