25. März 2024
Diskussion um Glücksspielparagraphen des StGB: Streichung hätte „Anschein einer Kapitulation“
Der Vorschlag des Bundesjustizministeriums zur Aufhebung der Strafvorschriften zum unerlaubten Glücksspiel sorgt für Diskussionen. Kritik kommt unter anderem von Burkhard Blienert, Beauftragter der Bundesregierung für Sicht- und Drogenfragen sowie Vertretern der Suchthilfe.
Auch Glücksspielrechtler Carsten Bringmann von der Kanzlei Noerr hält eine komplette Streichung der §§ 284 ff StGB nicht für den richtigen Weg: „Vor dem Hintergrund des von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Schwarzmarktes bekommt die Streichung den Anschein einer Kapitulation vor illegalen Anbietern.“ Er plädiert für eine Novellierung des StGB im Sinne einer Ausweitung auf illegale Glücksspielangebote mit Sitz im Ausland. Bringmanns Überlegungen zur Reform, die zuerst auf glücksspielwesen.de veröffentlicht wurden, finden Sie hier zum Nachlesen oder im Download.
Überlegungen zu einer Reform der §§ 284 ff. StGB, von Carsten Bringmann (Kanzlei Noerr)
- Ausgangspunkt der Überlegungen
Im November 2023 präsentierte das Bundesministerium der Justiz („BMJ“) ein Eckpunktepapier zur Modernisierung des Strafgesetzbuchs („StGB“).[1] Nach Angaben des BMJ liegt der Fokus der angestrebten Reform des Strafrechts auf historisch überholten Straftatbeständen, der Modernisierung des Strafrechts und der Entlastung der Justiz. Auch unter Berücksichtigung der Fachliteratur und der Rechtspraxis habe das BMJ eine Reihe von Delikten identifiziert, die aufgehoben oder angepasst werden sollen. Zu den Delikten, die aufgehoben werden sollen, zählen auch die Strafvorschriften zum unerlaubten Glücksspiel in den §§ 284 ff. StGB. Nicht nur der Beauftragte der Bundesregierung für Sicht- und Drogenfragen,[2] sondern auch Vertreter der Suchthilfe[3] sowie der Deutsche Richterbund[4] und die Gewerkschaft der Polizei[5] kritisieren die geplante Streichung der §§ 284 ff. StGB.
- Argumente des BMJ für eine Streichung der §§ 284 ff. StGB
Das BMJ führt hauptsächlich zwei Argumente an, um die Streichung der §§ 284 ff. StGB zu begründen: Erstens sei kein Rechtsgut erkennbar, das die Beibehaltung der Strafnormen rechtfertigen würde. Zweitens könnten entsprechende Verstöße bereits heute als Ordnungswidrigkeit gemäß § 28a des Staatsvertrags zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland („GlüStV 2021“) geahndet werden, was im Sinne des Ultima-Ratio-Grundsatzes ausreichend sei.
- Fehlendes Rechtsgut
Mit der Behauptung des fehlenden Rechtsguts bezieht sich das BMJ offenbar auf die in der Literatur vertretene Lehre vom Rechtsgüterschutz. Nach dieser Lehre muss jede Rechtsnorm ein taugliches Rechtsgut schützen. Fehlt es an einem schützenswerten Rechtsgut, sei die strafrechtliche Norm nicht legitimiert. Die Lehre vom Rechtsgüterschutz ist in der Literatur allerdings heftig umstritten.[6] Auch das Bundesverfassungsgericht („BVerfG“) hat dem Rechtsgut in einem Beschluss aus dem Jahr 2008 jegliche strafbarkeitsbegrenzende Funktion abgesprochen.[7] Dass das BMJ pauschal von – einem nach seiner Auffassung – fehlenden Rechtsgut darauf schließt, dass die glücksspielrechtlichen Strafnormen nicht (mehr) gerechtfertigt sind, erscheint daher kritikwürdig.
Aber selbst, wenn allein von einem fehlenden Rechtsgut auf die fehlende Rechtfertigung einer strafrechtlichen Norm geschlossen werden könnte, überzeugt die dargelegte Auffassung des BMJ nicht. Zumindest für §§ 284 und 287 StGB lässt sich nämlich gleich ein ganzes Bündel von schützenswerten Rechtsgütern ermitteln. Freilich kann – entgegen einer früher vertretenen Auffassung – in einer auf Konzeption des mündigen Bürgers aufbauenden pluralistischen Gesellschaft der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit und Moral keines dieser schützenwerten Rechtsgüter darstellen.[8] Hauptanliegen der Vorschriften ist es aber nicht, das Glücksspiel generell für sittlich und moralisch verwerflich zu erklären, sondern vielmehr die vom Glücksspiel ausgehenden Gefahren möglichst gering zu halten. Folgerichtig sind daher der Gesundheitsschutz in Form der Verhinderung und Bekämpfung von Glücksspielsucht, der Vermögensschutz, der Manipulationsschutz und der Schutz der Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit schützenwerte Rechtsgüter von §§ 284 und 287 StGB.[9]
Dagegen wird zuweilen eingewandt, dass sich die Strafnormen nicht generell gegen das Glücksspiel als solches richten, sondern nur gegen die Veranstaltung des ungenehmigten Glücksspiels. Dass die in Rede stehenden Strafnormen das Fehlen einer behördlichen Erlaubnis als (negatives) Tatbestandsmerkmal voraussetzen, basiert allerdings auf der plausiblen Prämisse, dass von staatlich erlaubtem und dauerhaft kontrolliertem Glücksspiel weniger Gefahren ausgehen als von Glücksspielangeboten, die ausschließlich auf dem unkontrollierten Schwarzmarkt stattfinden. Ein Erlaubnisinhaber wird nicht nur im Zeitpunkt der Erlaubniserteilung auf seine Zuverlässigkeit hin überprüft, sondern er muss sich nach der Erlaubniserteilung auch an die Regelungen des GlüStV 2021 halten, um nicht Gefahr zu laufen, dass die ihm erteilte Erlaubnis widerrufen wird. Die Regelungen des GlüStV 2021 wiederrum sind spezifisch auf einen Schutz vor Sucht- und Manipulationsgefahren und den Vermögensschutz angelegt.
Im Ergebnis bestätigt sich die These vom fehlenden Rechtsgut der §§ 284 ff. StGB also nicht. Diese Erkenntnis deckt sich auch mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der europäischen Union („EuGH“) und des BVerfG. Während erstere die Legitimität strafbewährter Verbote primär aus der gebotenen Suchtprävention herleiten,[10] sieht letzterer den legitimen Sinn und Zweck der glücksspielrechtlichen Strafvorschriften darin, die „wirtschaftliche Ausbeutung der natürlichen Spielleidenschaft des Publikums unter staatliche Kontrolle und Zügelung zu nehmen“.[11]
Etwas anderes gilt allerdings für § 285 StGB. Ein strafschutzwürdiges Rechtsgut, das die Pönalisierung der „bloßen“ Beteiligung am illegalen Glücksspiel legitimiert, ist nicht ersichtlich. Die bei §§ 284 und 287 StGB angeführten Rechtgüter können hier nicht herangezogen werden, da sie allesamt dem Schutz des am Glücksspiel Teilnehmenden selbst dienen. Wenn die Teilnahme am Glücksspiel unter Strafe steht, wird faktisch das „Opfer“ des illegalen Glücksspiels bestraft.[12]
- Ultima-ratio-Grundsatz
Das BMJ begründet die Streichung der §§ 284 ff. StGB daneben mit dem Ultima-ratio-Grundsatz. Schließlich könnten Verstöße gegen den GlüStV 2021 schon heute durch den neu eingeführten § 28a GlüStV 2021 hinreichend mit einem Bußgeld sanktioniert werden. Sowohl das Strafrecht auch als Ordnungswidrigkeitenrecht sind auf die Sanktionierung rechtswidrigen Fehlverhaltens ausgerichtet. Als schärfste mögliche Sanktionsform soll die Kriminalstrafe nach dem Ultima-ratio-Grundsatz nur behutsam eingesetzt werden.[13] Das BVerfG spricht dem Gesetzgeber bei der Unterscheidung zwischen kriminellem Unrecht und Ordnungswidrigkeitsrecht – außerhalb von Kernbereichen, die für Delikte des jeweils anderen Rechtsgebiets verschlossen sind[14] – grundsätzlich einen Entscheidungsspielraum zu.[15] Dieser Entscheidungsspielraum ist nach herrschender Meinung jedoch dahingehend beschränkt, dass sich der Gesetzgeber an qualitativen und quantitativen Kriterien unter Berücksichtigung des sozialethischen Unwerturteils der Kriminalstrafe zu orientieren hat.[16]
Es gibt gewichtige Gründe dafür, dass der Gesetzgeber seinen Entscheidungsspielraum hin zu einer Beibehaltung der §§ 284 ff StGB ausüben sollte. Im Glücksspielbereich besteht ein beträchtlicher Schwarzmarkt. Neuste Studien belegen sogar ein starkes Wachstum des nicht-lizensierten Online-Glücksspielmarktes im letzten Jahr.[17] Dieser Schwarzmarkt unterwandert die Ziele der deutschen Glücksspielregulierung, insbesondere das öffentliche Kanalisierungsziel aus § 1 Satz 1 Nr. 2 GlüStV 2021. Da im unregulierten Markt die Spielerschutzinstrumente (z.B. Einzahlungslimit oder Spielersperrdatei) nicht greifen, wird durch das Schwarzmarktangebot auch das Ziel der Suchtbekämpfung und -prävention gefährdet. Das illegale Angebot stellt sich danach als ein beachtlicher Angriff auf die Normen des Soziallebens dar. Da sich viele der nicht-lizenzierten Glücksspielanbieter bewusst und „beharrlich“ der staatlichen Regulierung entziehen, kann in diesen Fällen auch von einer erheblichen Vorwerfbarkeit ausgegangen werden, die ein sozialethisches Unwerturteil begründet.
Auch der Hinweis des BMJ, dass entsprechende Verstöße schon heute nach § 28 GlüStV 2021 geahndet werden können, geht fehl. Weite Teile der Literatur gehen davon aus, dass die Staatsvertragsgeber § 28a nicht in den GlüStV 2021 hätten integrieren dürfen.[18] Hält man die noch bestehenden bundesgesetzlichen Regelungen der §§ 284 ff. StGB für abschließend, wären in der Tat landesrechtliche Glücksspielstraf- und Glücksspielordnungswidrigkeitsvorschriften entweder formell verfassungswidrig oder aber nach § 4 Abs. 2 EGStGB unzulässig. Eine mögliche Verfassungswidrigkeit und damit verbundene Nichtigkeit des § 28a GlüStV 2021 könnte jedoch auch durch die Streichung der §§ 284 ff StGB nicht einfach geheilt werden.[19] Geht man danach von einer Verfassungswidrigkeit des § 28a GlüStV 2021 aus und würde man die §§ 284 ff. StGB streichen, stünden künftig gegebenenfalls sogar keinerlei Sanktionsmechanismen mehr für illegales Glücksspiel zur Verfügung.
Bedenklich ist darüber hinaus, dass mit der Aufhebung des Glücksspielstrafrechts nicht mehr die Strafverfolgungsbehörden für die Verfolgung unerlaubter Glücksspielangebote zuständig wären, sondern die Ordnungsbehörden. Den Ordnungsbehörden fehlt es aber an Kapazität und auch an dem erforderlichen Know-How für die Verfolgung derartiger Delikte. Das gilt für die jetzt schon gut ausgelastete und erst im Jahr 2021 eingerichtete Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder (GGL), die derzeit als zuständige Erlaubnis- und Aufsichtsbehörde für eine Vielzahl der legalen Online-Angebote sowie als zuständige Ordnungswidrigkeitsbehörde für legales und illegales Onlineglücksspiel fungiert. Erst recht werden aber die für das terrestrische Glücksspiel zuständigen kleinen Ordnungsbehörden bei der Verfolgung illegaler Glücksspielangebote an ihre Grenzen stoßen.[20]
Auch sollte die symbolische Wirkung der Streichung der §§ 284 ff. StGB nicht unterschätzt werden. Vor dem Hintergrund des von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Schwarzmarktes bekommt die Streichung den Anschein einer Kapitulation vor illegalen Anbietern. Der Kapitulationsverdacht erhärtet sich dadurch, dass die polizeiliche Kriminalstatistik im Jahr 2021 – zum Inkrafttreten des GlüStV 2021 – einen drastischen Anstieg der glücksspielstrafrechtlichen Delikte ausweist.[21]
- Novellierungsvorschlag
Der Gedanke des BMJ, die §§ 284 ff. StGB, welche seit dem Jahr 1919[22] nicht mehr wesentlich geändert wurden, zu modernisieren, ist durchaus berechtigt. Die Modernisierung ist allerdings nicht durch Streichung sämtlicher glücksspielstrafrechtlicher Normen zu erreichen. Lediglich § 285 StGB sollte aufgrund seiner rein paternalistischen Schutzrichtung und der Achtung der Selbstbestimmung des Bürgers gestrichen werden.[23]
Ein wesentliches Problem der glücksspielrechtlichen Strafvorschriften besteht darin, dass sie nach herrschender Meinung auf eine im Online-Glücksspielbereich häufig anzutreffende Konstellation keine Anwendung finden. So sind zwar die Online-Glücksspielangebote in Deutschland abrufbar, jedoch veranstalten die Anbieter das Glücksspiel regelmäßig aus dem Ausland heraus. Nach wohl herrschender Auffassung ist § 284 Abs. 1 StGB ein Tätigkeitsdelikt in Form eines reinen abstrakten Gefährdungsdelikts. Es fehle daher regelmäßig an einem Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB im Inland und somit an einer deutschen Strafbarkeit.[24] Dieses Problem der glücksspielrechtlichen Strafvorschriften könnte im Rahmen einer Modernisierung behoben werden. Dabei erscheint es überzeugend, nicht den Wortlaut der § 284 ff StGB zu ändern,[25] sondern vielmehr den Katalog der Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug in § 5 Nr. 1 bis 17 StGB zu erweitern. Konkret könnte § 5 StGB durch Einfügen einer neuen Nr. 10b folgendermaßen neu gefasst werden:
„Das deutsche Strafrecht gilt, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden:
(…)
Nr. 10b
Unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels, einer Lotterie oder einer Ausspielung (§§ 284 und 287 StGB), wenn das Veranstaltungsangebot im Inland abrufbar ist und gezielt auf den inländischen Markt ausgerichtet ist, (…).“
Hierfür spricht nicht zuletzt, dass der Bundesgesetzgeber 2016 in ähnlicher Weise einen im Ausland begangenen Sportwettbetrug nach § 5 Nr. 10a StGB unter Strafe gestellt hat, soweit sich die Tat auf einen Wettbewerb bezieht, der im Inland stattfindet. Der Gesetzgeber begründet die Einführung des § 5 Nr. 10a StGB damit, dass ansonsten die Gefahr bestünde,
„dass derartige im Ausland begangene Handlungen trotz ihres Bezugs zu einem inländischen Wettbewerb nicht vom deutschen Strafrecht erfasst würden – insbesondere wenn sie dort nicht strafbar sind – und daher diese Handlungen womöglich bewusst im Ausland vorgenommen würden, um einer Strafbarkeit nach deutschem Recht zu entgehen“.[26]
Auf ähnliche Erwägungen ließe sich die Neueinführung eines § 5 Nr. 10b StGB stützen.